Ist der Vektor das Problem? – Seite 1

Bis Ende Juni erwartet die Europäische Union 55 Millionen Impfstoffdosen vom Hersteller Johnson & Johnson – 9,4 Millionen davon soll Deutschland erhalten. Mit diesem Impfstoff könnte in den nächsten gut zwei Monaten rund ein Achtel der deutschen Bevölkerung einen vollständigen Impfschutz gegen Covid-19 erhalten. Denn im Gegensatz zu den anderen Impfstoffen genügt dafür bei der Vakzine von Johnson & Johnson eine einzige Spritze.

Am 13. April teilte der Pharmakonzern nun aber mit, den Marktstart in Europa zu verschieben. In den USA, wo schon 6,68 Millionen Menschen das Mittel erhielten, wird es vorerst nicht mehr eingesetzt. Der Grund: Bei sechs Frauen im Alter zwischen 18 und 48 Jahren traten nach der Impfung Sinusvenenthrombosen und Blutplättchenmangel auf. Sinusvenen sind Gefäße in der Hirnhaut, die das Blut aus dem Kopf zurück zum Herz leiten. Bildet sich dort ein Gerinnsel, kann sich Blut vor der Engstelle in die Gefäße des Kopfes zurückstauen – der Druck steigt.

Wird das Krankheitsbild zu spät bemerkt, kann es vor allem im Zusammenhang mit einem Mangel an Blutplättchen zu lebensgefährlichen Blutungen im Kopf kommen. Mit sechs berichteten Fällen bei knapp sieben Millionen verimpften Dosen von Johnson & Johnson tritt diese Komplikation in den USA bisher sehr selten auf – auch wenn man ausschließlich Dosen einbezieht, die an Frauen in der betroffenen Altersgruppe verimpft wurden, insgesamt waren das 1,4 Millionen. Doch gab es gleichzeitig nach 182 Millionen verimpften Dosen mit den mRNA-Impfstoffen von BioNTech oder Moderna nicht einen einzigen vergleichbaren Fall in den USA. 

Parallelen zum Impfstoff von AstraZeneca

Die Berichte über die seltenen Blutgerinnsel in den USA dürften bei vielen die Meldungen über den Impfstoff von AstraZeneca in Erinnerung rufen, bei dem sehr ähnliche Ereignisse in mehreren europäischen Ländern zu einem vorübergehenden Impfstopp geführt hatten. Anfang April kam die Europäische Arzneimittelagentur Ema zu dem Schluss, dass Vaxzevria, so der Name des AstraZeneca-Impfstoffs, in seltenen Fällen zu ungewöhnlichen Blutgerinnseln in Verbindung mit Blutplättchenmangel führen kann. Bis zum 4. April wurden der Behörde 169 Fälle von Sinusvenenthrombosen und 53 Fälle von Gerinnseln in Venen der großen Bauchorgane gemeldet. Die Ständige Impfkommission Stiko empfiehlt die Vakzine hierzulande nur noch für Menschen über 60, weil bisher ebenfalls vor allem jüngere Menschen von der Komplikation betroffen sind, die zudem ein geringeres Risiko haben als Ältere, schwer an Covid-19 zu erkranken.

Tatsächlich ähneln sich nicht nur die berichteten Fälle, sondern auch die Impfstoffe von AstraZeneca und Johnson & Johnson: Beide basieren auf dem Vektorprinzip. Dabei werden Erbinformationen von Sars-CoV-2 mit Hilfe von harmlosen Viren, sogenannten Vektoren, in die Zellen des Körpers eingeschleust. Diese produzieren anschließend das Stachelprotein des Coronavirus, das dann zur gewünschten Antikörperantwort führt. 

Gibt es also einen Zusammenhang zwischen dem Vektor und den seltenen Nebenwirkungen? Und wenn ja, was bedeutet das für den weiteren Einsatz des Impfstoffes?

Mittlerweile haben Forschende erste Hinweise gefunden, die dafür sprechen, dass hinter den Komplikationen in den USA und Europa ein gemeinsamer Mechanismus stecken könnte. Fünf von sechs Blutproben aus den Vereinigten Staaten wurden genauer untersucht und die Ergebnisse am 14. April bei einem Treffen der zuständigen Impfkommission der US-Seuchenschutzbehörde CDC präsentiert. In allen fünf fanden sich spezielle Antikörper gegen den Plättchenfaktor 4, ein Protein, das auf Blutplättchen vorkommt. Diese Antikörper stehen in Europa schon länger im Fokus. 

So hatte ein Team um den Greifswalder Gerinnungsspezialisten Andreas Greinacher Mitte März elf Fälle aus Deutschland und Österreich genauer untersucht, bei denen nach der Impfung mit AstraZeneca Thrombosen an ungewöhnlichen Stellen oder Blutplättchenmangel aufgetreten waren. Bei neun von ihnen fanden sich PF4-Antikörper im Blut, der Antikörperstatus der übrigen zwei ist unbekannt. (NEJM: Greinacher et al., 2021). Auch ein Forschungsteam aus Norwegen, das das Blut von vier Frauen und einem Mann untersuchte, die sieben bis zehn Tage nach der ersten AstraZeneca-Dosis Thrombosen und Blutplättchenmangel entwickelten, fand in allen fünf Fällen hohe Spiegel der verdächtigen Antikörper (NEJM: Schutz et al., 2021).

Das Team um Greinacher geht davon aus, dass diese Antikörper an Blutplättchen andocken und sie so aktivieren können. Wenn daraufhin viele Blutplättchen miteinander verklumpen, kann das zu Thrombosen führen. Gleichzeitig sinkt die Zahl der verfügbaren Blutplättchen, was den späteren Mangel erklären würde. Diesen Mechanismus kennen Mediziner als seltene Nebenwirkung von Heparin. Das gerinnungshemmende Medikament kann im Blut Komplexe mit dem Plättchenfaktor 4 bilden, die dann zur Bildung der seltenen Antikörper führen. Die Rede ist dann von einer heparininduzierten Thrombozytopenie. 

Woher kommen die Antikörper?

Nun sind diese Antikörper im Blut von Menschen aufgetaucht, die nach der Impfung mit der Vakzine von AstraZeneca oder Johnson & Johnson Gerinnsel in Verbindung mit Blutplättchenarmut entwickelten – und zwar unabhängig von Heparin. Die Frage, an der Wissenschaftlerinnen und Forscher weltweit arbeiten, ist also: Welche Komponenten der Vektorimpfstoffe könnten eine ähnliche Kaskade in Gang setzen?

Noch ist das nicht geklärt, die Greifswalder Forschenden um Greinacher haben allerdings einen Bestandteil im Verdacht: freie DNA, also Erbgutmoleküle der Vektorviren, die ins Gewebe gelangt. Schon 2013 hatte Greinacher gemeinsam mit anderen Forschenden gezeigt, dass DNA – ähnlich wie Heparin – Komplexe mit dem Plättchenfaktor 4 bilden kann. Und erst auf solche Komplexe scheint das Immunsystem zu reagieren, wie man aus Experimenten mit Mäusen weiß (Blood: Jaax et al., 2013).

Wo aber könnte freie DNA nach einer Impfung mit einem Vektorimpfstoff eigentlich herkommen? "Vor allem aus dem Vektorvirus selbst", sagt Friedemann Weber, Leiter des Instituts für Virologie an der Universität Gießen. Bei Vektorimpfstoffen werden Erkältungsviren als Fähre benutzt, um die Informationen zum Bau des Corona-Stachelproteins in die Körperzellen zu schleusen. Diese Information in Form von DNA befindet sich also im Inneren der Vektorviren. Sie ist eingebaut in die DNA, die sich sowieso im Inneren des Virus befindet und von einer stabilen Schale umhüllt ist – zumindest meistens.

Wir können es uns nicht leisten, auf diese Impfstoffe zu verzichten.
Friedemann Weber, Virologe

"Adenoviren sind sehr umweltstabil, aber es ist nichts perfekt in der Natur", sagt Weber. Das bedeutet: Von den Milliarden Viruspartikeln, die pro Dosis gespritzt werden, sind nie alle intakt. Das beginne schon bei der Herstellung und setze sich bei der Aufreinigung fort, so Weber. Auch beim Impfen selbst sind die Vektoren mechanischem Druck ausgesetzt. Und erst einmal im Körper angekommen, knabbern Enzyme die Hülle an. Am Ende landet so freie DNA im Gewebe, wo sie auch auf Immunzellen stößt.

Eine gewisse Menge freie Virus-DNA im Körper sei also gar nicht zu vermeiden, sagt auch Leif Erik Sander, Infektiologe und Impfstoffforscher an der Berliner Charité. Daher komme auch die starke Entzündungsreaktion bei den Vektorimpfstoffen, die sich in Form von Impfreaktionen bemerkbar macht. "Virus-DNA stimuliert das Immunsystem sehr stark", sagt Sander. 

Er hält es für möglich, dass freies Erbgut der Vektorviren die seltenen Impfkomplikationen in den USA und Europa ausgelöst haben könnte. "Zumal Krankheitsbilder, die durch DNA-Immunkomplexe hervorgerufen werden, im Allgemeinen häufiger junge Frauen betreffen als andere Bevölkerungsgruppen", sagt Sander. Noch sei das zwar Spekulation, es könnte aber dazu passen, dass die ungewöhnlichen Blutgerinnsel bislang deutlich seltener bei Männern beobachtet wurden. 

Möglicherweise, sagt Sander, habe neben der DNA aber auch die folgende Entzündungsreaktion selbst etwas mit den Gerinnseln und dem Blutplättchenmangel zu tun. Möglich sei etwa, dass bestimmte Proteine eine Rolle spielen, die sich während der Entzündungsreaktion bilden. Oder, dass das sogenannte Komplementsystem, ein Teil des Immunsystems, beteiligt sei. Das alles seien aber bisher nur Hypothesen.

Ist die hohe Dosis ein Problem?

Die Impfreaktion jedenfalls ist auch so stark, weil die Vektorimpfstoffe in einer ziemlich hohen Dosis verabreicht werden. In einer Spritze befinden sich sowohl bei AstraZeneca als auch bei Johnson & Johnson 50 Milliarden Adenoviren. "Viele Forscher haben schon von Beginn an darauf aufmerksam gemacht, dass das sehr hohe Dosen sind", sagt Sander. Der russische Impfstoff Sputnik V, der ebenfalls Adenoviren als Vektor benutzt, wird gar in einer doppelt so hohen Menge von 100 Milliarden Viruspartikeln pro Dosis verabreicht (The Lancet: Logunov et al., 2021). "Ich rechne damit, dass es bei Sputnik V ebenfalls in seltenen Fällen zu den Nebenwirkungen kommen könnte", sagt Friedemann Weber – auch wenn aus Ländern, wo der Impfstoff schon verimpft wird, bisher keine Häufung gemeldet wurde. "Es ist zumindest bei der ersten Dosis derselbe Vektor wie bei Johnson & Johnson, und es ist eine enorm hohe Dosis." 

Sollte die Dosis bei den Komplikationen tatsächlich eine entscheidende Rolle spielen, könnte es womöglich helfen, weniger Viren pro Spritze zu verabreichen. In einer Studie hatten Teilnehmende, die irrtümlich als Erstimpfung nur die halbe Dosis des AstraZeneca-Impfstoffs erhielten, einen besseren Schutz vor Covid-19 (The Lancet: Voysey et al., 2021). Allerdings verging in dieser Subgruppe auch mehr Zeit zwischen erster und zweiter Dosis, was ebenfalls zur besseren Wirksamkeit geführt und den Dosiseffekt überlagert haben könnte. Trotzdem vermutet Sander, dass der Schutz bei einer niedrigeren Dosis wahrscheinlich erhalten bliebe. Zudem hatten die Forschenden aus Oxford bereits in früheren Studien berichtet, dass eine geringere Dosis der Vakzine auch zu weniger Impfreaktionen führt. 

"Nur kann man nicht einfach die Anzahl der Viren ändern und hoffen, dass schon alles gut gehen wird", sagt Sander. "Dafür braucht es schon klinische Studien." Einen positiven Effekt hätte eine geringere Dosis in jedem Fall, meint Weber. Man hätte deutlich mehr Impfstoff zur Verfügung.

Nutzen überwiegt die Risiken

Noch sind all das aber sehr frühe Überlegungen – vor allem, solange nicht wirklich sicher ist, welcher Mechanismus wirklich hinter den seltenen Nebenwirkungen steckt. Doch Forschende hoffen, bald mehr zu wissen.

"Wir führen gerade eine Reihe von Experimenten durch und werden in ein bis zwei Wochen sicherlich erste Ergebnisse haben", sagt der Molekularbiologe Rolf Marschalek. Er leitet eine Arbeitsgruppe an der Frankfurter Universität, die ebenfalls mögliche Mechanismen erforscht, und steht dabei im engen Austausch mit dem Team um Andreas Greinacher aus Greifswald. "Die Idee, dass es an freier adenoviraler DNA und der hohen Dosis liegen könnte, ist plausibel, sie erklärt jedoch nur den Blutplättchenmangel, nicht aber, warum sich Thrombosen an spezifischen Orten des Körpers, wie beispielsweise den Sinusvenen bilden. Ein paar Puzzlestücke fehlen also noch, an denen wir arbeiten."

Auch jetzt dürfe auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass die Vektorimpfstoffe wertlos seien, sagt Weber. Sie schützten sehr gut vor einem schweren Verlauf, und gerade bei Älteren sei kein erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen bekannt. "Wir können es uns nicht leisten, auf diese Impfstoffe zu verzichten. Ohne sie würden wir viele Leben mehr an Covid-19 verlieren."

Denn: Selbst wenn eine Impfung mit Vektorimpfstoffen die Komplikationen auslösen kann, bleiben sie eine absolute Seltenheit. Unter 22,6 Millionen Menschen, die im Vereinigten Königreich mit Vaxzevria geimpft wurden, sind bislang 100 Fälle aufgetreten, in der EU sind es nach 34 Millionen Impfungen insgesamt 222 Verdachtsfälle. Demgegenüber steht vor allem bei Älteren ein enorm hoher Nutzen. Schon vier Wochen nach der ersten Dosis verhindert die Impfung mit dem Mittel von AstraZeneca neun von zehn schweren Krankheitsverläufen mit Covid-19. Das zeigt eine schottische Analyse von 1,14 Millionen Geimpften. (BMJ: Torjesen, 2021)

Forschende der Universität Cambridge haben die Nutzen-Risiko-Abwägung für die Impfung von AstraZeneca genauer beziffert. Für verschiedene Sieben-Tage-Inzidenzen berechneten sie, wie wahrscheinlich sich eine Person mit dem Coronavirus infiziert – und wie hoch im Anschluss das Risiko je nach Alter wäre, mit einem schweren Krankheitsverlauf in einer Intensivstation behandelt zu werden. Einzig bei einer niedrigen Inzidenz und Menschen unter 30 könnte das Risiko überwiegen. Bei älteren Menschen hingegen liegt der Nutzen um ein Vielfaches über den Risiken. Ein Beispiel: Bei 100.000 geimpften 60- bis 69-Jährigen und einer Inzidenz von 140 Neuinfektionen auf 100.000 Menschen pro Woche verhinderten die Impfungen mehr als 14 Einweisungen auf die Intensivstation, während nur 0,2 Fälle der speziellen Sinusvenenthrombose auftraten. Bei einer Inzidenz von 420 verhinderte der Impfstoff – bei gleichem Risiko – sogar mehr als 40 Intensiveinweisungen.

Das heißt: Mit jedem Tag, an dem sich die dritte Welle in Deutschland weiter aufbaut, überwiegt der Nutzen ein Stück weit mehr. Da aber nicht alle Impfstoffe bislang in Verbindung mit den seltenen Nebenwirkungen stehen, ist es sinnvoll, das Mittel von AstraZeneca vor allem an solche zu verimpfen, bei denen der Nutzen am stärksten überwiegt – nämliche ältere Menschen.

Offen bleibt vor dem Hintergrund all dessen, wie es mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson nun weitergeht. In den USA steht man vor der Entscheidung, den Impfstoff gar nicht mehr zu verimpfen, ihn nur manchen zu empfehlen (etwa Menschen ab 50 oder nur Männern) oder ihn wieder allen zu empfehlen.

Die Europäische Aufsichtsbehörde Ema untersucht die US-Fälle ebenso und arbeitet dabei eng mit der amerikanischen Behörde FDA zusammen. Voraussichtlich kommende Woche will die Ema eine Empfehlung abgeben. Auch zum Impfstoff von AstraZeneca soll es nach einer weiteren Prüfung bald ein Update geben.